Kameradschaft und Piraterie, Wale und Flüchtlingsboote – Erste Offizierin Taalke Middents hat auf See viel erlebt und strebt nach mehr
Sie ist groß, blond und steuert Containerschiffe durch die Weltmeere. Mit nur 29 Jahren ist Taalke Middents Erste Offizierin der Hamburger Reederei Hapag-Lloyd. Die Seefahrerin verantwortet Tausende Tonnen Fracht, die verladen, gesichert und in den Häfen umgeschlagen werden müssen. Seit zehn Jahren schippert sie mit den Meeresgiganten um die Welt. „Viele wissen nicht, dass die Mangos, die sie zum Frühstück essen, wochenlang von Menschen auf Containerschiffen hergebracht wurden – als ob der kolumbianische Bauer die Mangos abends gepflückt und sie morgens einfach auf dem Frühstücksteller liegen“, sagt sie. Der Bereich ‚Seefahrt‘ ist vielen kein Begriff mehr:“
Bevor Middents zu Hapag-Lloyd wechselte, arbeitete sie bei der Hamburger Reederei Leonhardt & Blumberg. Dort startete sie als Praktikantin im zweiten Praxissemester. Nach dem Nautikstudium stellte die Reederei sie als Dritte Offizierin an; sie erhielt eine Uniform mit einem Streifen auf den Schulterklappen. Dienstleister in Häfen erkennen ihre Ansprechpartner am Abzeichen. Dritte Offiziere berechnen Seewege elektronisch und zeichnen händisch Routen in Karten ein.
Als Middents sich den zweiten Streifen verdiente, verantwortete sie die Sicherheitsvorkehrungen auf dem Schiff. Ihre jetzige Uniform trägt drei Streifen. Nur der Kapitän mit vier Streifen ist höher gestellt. „Ich bin echt stolz darauf, dass ich es so weit geschafft habe“, sagt Middents. Doch sie strebt nach mehr: dem Kapitänsgrad. Dann dürfte sie durch schmale Meeresarme und in Häfen steuern. Die erforderliche Ausbildung habe die Diplom-Nautikerin absolviert; es fehle schlicht an Berufserfahrung. Dann könnten die Kapitäne Empfehlungen für Middents‘ Beförderung aussprechen.
Schon jetzt blickt die junge Frau auf eine Reihe sowohl herausfordernder als auch glücklicher Seemomente zurück. An der saudi-arabischen Küste sah sie unter der spiegelglatten Wasseroberfläche Haie, wenige Meilen vor Ghana hörte sie ein lautes Klatschen und sah einen „bestimmt 20 Meter langen Wal“ abtauchen. Auf dem Atlantischen Ozean entdeckte sie ein Boot mit Geflüchteten, versorgte die Menschen mit Nahrung und blieb bei ihnen, bis ein spanisches Rettungsboot eintraf. Das würde sie jederzeit wieder tun. „Ich könnte keinen Menschen sterben lassen, und von den Menschen, mit denen ich zusammengearbeitet habe, könnte das auch keiner“, sagt sie.
Seefahrt: Zwischen Piraterie und Schlechtwetterlagen
Auf die Frage, ob sie auf See schon Angst hatte, antwortet sie nach kurzem Zögern. „So richtig Angst? Daran kann ich mich nicht erinnern.“ Auch nicht, wenn sie in Piratengewässern vor Somalia oder auf der Straße von Malakka östlich von Malaysia fahre. Bisher habe sie Piraten immer ausweichen können, kenne aber einen Kollegen der vor Somalia verschleppt und später freigelassen worden sei. „Ich bin nicht glücklich, dort durchzufahren, aber Angst habe ich nicht.“ Sie treffe Schutzmaßnahmen und erhöhe die Geschwindigkeit, um der Gefahr davon zu schwimmen.
Selten beruhige sie schlechtes Wetter, denn die Reederei arbeite mit Meteorologen zusammen. Auf deren Rat warte die Besatzung die Schlechtwetterlage auch mal in seichteren Gewässern ab. „Wir sind schon einige Tage in den Azoren rumgedümpelt, weil in der Biskaya schlechtes Wetter war“, erzählte sie. Das sei komisch gewesen, auf der einen Seite strahlender Sonnenschein auf dem Containerschiff, auf der anderen Seite die Schlechtwetterlage in der Zielregion vor der Küste Frankreichs und Spaniens. Aber Sicherheit gehe vor.
Viel bedrohlicher als Piraterie und Wetterlagen sei menschliches Versagen. „Gefährliche Situationen sind Unachtsamkeit auf See geschuldet, zum Beispiel auch, wenn der Verkehr unterschätzt wurde“, sagt die Seefahrerin. „Dann heißt es, den Kapitän um Hilfe bitten.“ Außerdem können sich Besatzungsmitglieder, wie in jedem Haushalt, verletzen oder erkranken, weshalb alle nautischen Offiziere im Studium zu Erstversorgern ausgebildet wurden.
Corona-Hygiene: mit Putzplan gegen die Pandemie
Zwei Wochen verbringen Nautikstudierende im Krankenhaus, eine davon in der Notaufnahme. „Das dient eher der Abschreckung, damit man beim ersten Blutstropfen nicht in Ohnmacht fällt“, sagt Middents. Außerdem sei das Netz so gut ausgebaut, dass deutsche Seefahrer an nahezu jedem Ort die Bereitschaftsärzte im Cuxhavener Krankenhaus anrufen könnten. Die Ärzte würden alle Board-Medikamente kennen und der Besatzung notfalls zum Landgang raten. Auch das ist Middents schon passiert. „Als wir von Kalifornien nach Tahiti gefahren sind, konnte unser Kapitän von Tag zu Tag weniger sehen. Wir haben täglich geschaut, wo das nächste Land ist.“ Der Kapitän hat die Fahrt gepackt, die Seefahrer mussten nicht an Land anlegen.
Seit März spielt ein weiterer Faktor in die Gesundheit an Bord hinein: Das Coronavirus macht auch vor Seefahrenden keinen halt. Zum Schutz der Gruppe müssen alle nach jedem Hafenstopp großflächig putzen. Außer der Besatzung darf niemand an Bord gehen – zu hoch wäre die Ansteckungsgefahr, zu gravierend wären die Auswirkungen. Gibt es keine neuen COVID-19-Beschränkungen, steuert Middents bald wieder in Richtung Weltmeere. Und arbeitet an der Berufserfahrung für den Kapitäninnenposten.
Dieses Porträt erschient zuerst im Hamburger Abendblatt, Autorin ist Laura Kosanke.