Ein sonniger Wintertag in Bremerhaven, majestätisch erhebt sich die Al Bahia am Kaiserkai der Bredo Werft an der Weser. Der Lärm von Hämmern und Schleifen ist schon von Weitem zu hören, an Deck fliegen Funken bei Schweißarbeiten. Die Crew erledigt hier seit einer Woche ein paar Schönheitsreparaturen auf dem 2008 erbauten Containerriesen, der über eine Kapazität von 7.300 TEU verfügt. Auch Kapitän Sylwester Mackiewicz hat noch alle Hände voll zu tun. Weihnachten soll es heim nach Stettin zur Familie gehen.
„Es sind schon verrückte Zeiten“, erzählt Sylwester Mackiewicz, während er die Kaffeemaschine einschaltet und zwei Teller mit Aufschnitt, dazu Pumpernickel und Frischkäse serviert. Er trägt Jeans und einen dunkelblauen Pullover mit den obligatorischen vier goldenen Streifen rechts und links auf den Schultern. „Ich fahre hauptsächlich die Europa-Asienroute und wir hörten schon Ende 2019, dass da ein neuartiges Virus in China die Runde macht. Aber so richtig ernst nahmen wir das nicht. Wir gingen an Land, ohne zu wissen, wie gefährlich sich die Situation noch entwickeln würde – es war der Anfang der Pandemie.“
Der 49-Jährige arbeitete zu dieser Zeit noch als Chief Mate. „Im Februar erlebten wir dann im Hafen von Shanghai hautnah die Auswirkungen. Niemand kam mehr an Bord, alles wurde nur noch per Mail erledigt. Und natürlich gab es keinen Landurlaub. Nur ein Agent und zwei Beamte besuchten uns zur Personenkontrolle im Konferenzraum, von Kopf bis Fuß in Schutzanzügen, Gummihandschuhen und doppelten Gesichtsmasken bekleidet.“ Die Offiziersassistenten hätten regelrecht Angst vor den fremd anmutenden Kollegen gehabt: „Aber ich sagte nur: Ihr sollte lieber Angst vor Leuten haben, die ohne Schutzkleidung an Bord kommen“, lacht Sylwester Mackiewicz. Fast sechs Monate schipperte der gebürtige Pole zwischen den Lockdowns in China und Europa hin und her. „In China kam der Lockdown nach unserer Abreise. Kaum hatten wir dann Europa wieder verlassen, setzt dort der Lockdown ein. Aber wenn du auf dem Schiff bist und fast alles remote erledigst, lebst du wie auf einer Insel. Wir haben uns jederzeit sicher gefühlt.“
Im Mai kam dann die verdiente Pause und Zeit für Tochter, Sohn und Frau. Zeit, im neuen Haus am Stettiner Stadtrand zu werkeln und ein bisschen Urlaub im nahen Barlinek zu machen. „Dann klingelte das Telefon und Finn Albertsen stellte sich als neuer Director Crew Management & Training für die aus Dubai gemanagte Flotte vor: ,Könnten Sie in Kürze wieder an Bord gehen – als Kapitän?‘, fragte er mich und lud mich zum Vorstellungsgespräch ein“, erzählt Sylwester Mackiewicz. Wie man sich fühlt, wenn man über 17 Jahre als Chief Mate die Weltmeere bereist hat und dann die Frage aller Fragen gestellt bekommt, kann man sich unschwer vorstellen. „Ehrlicherweise hatte ich in den letzten Jahren schon überlegt, vielleicht noch mal etwas völlig anderes zu machen“, gibt der Mann mit den strahlend blauen Augen zu. „Aber das war nach diesem Telefonat vom Tisch. Auch meine Frau sagte: Diese Gelegenheit kriegst du kein zweites Mal!“
So absolvierte der erfahrene Seemann, der in seinen 17 Jahren als 1. Offizier die unterschiedlichsten Kapitänscharaktere studieren konnte, an einem Sonntag morgen online zwei Vorstellungsrunden. „Es ging ums gesamte Knowhow an Bord. Schiffsdokumente und Zertifikate, IMS-Verfahren und was in unerwarteten Situationen zu tun ist, zum Beispiel bei Maschinenausfällen, Piraterie oder Unfällen an Bord. Auch wie ich die Besatzung in der aktuellen Pandemie manage, wenn beispielsweise Verträge verlängert werden müssen, weil keine Abreisemöglichkeit besteht.“ Fragen, die man nicht mit dem Lehrbuch in der Hand, sondern nur mit jahrelanger Erfahrung beantworten kann, glaubt Sylwester Mackiewicz. Es folgte banges Warten und schließlich die ersehnte Zusage „Danach haben meine Frau und ich erst mal einen Champagner aufgemacht!“
„Meiner erste Fahrt in neuer Rolle war großartig, denn ich hatte eine sehr gute und lange Übergabezeit“, berichtet der frisch gebackene Kapitän augenzwinkernd: „Eigentlich sollte es eine zehntägige Übergabe von Hamburg nach New York werden. Aber kurz vor Ankunft stellte der begleitende Kapitän stellte fest, dass sein Visum abgelaufen war – so durfte er nicht an Land und wir machten die gesamte Tour zusammen.“ Charleston, Savannah, Le Havre, London, Rotterdam, Hamburg – Häfen, die Sylwester Mackiewicz unzählige Male als Chief Mate angefahren hatte, steuerte er jetzt als Kapitän an. „Und ganz ehrlich: Früher habe ich manchmal gedacht, na ja, so viel macht ein Kapitän nun auch nicht. Aber jetzt weiß ich, was Verantwortung bedeutet. Gerade in diesen Zeiten, wenn Du noch viel intensiver für Deine Crew da sein musst, und durch Covid-19 weltweit so viel Unsicherheit herrscht.“
Aktuell sei er weit davon entfernt einen Routine-Job zu machen. „Ich überprüfe alles zwei Mal, lerne viel Neues, schließlich bin ich für alles, was ich tue verantwortlich.“ Auch in Sachen Personalverantwortung und Kommunikation, kann er jetzt seine Erfahrung einbringen. „Einmal mehr wird mir klar, wie viel Wahrheit in einem Satz aus dem Vorstellungsgespräch liegt: „Ein Kapitän ist nur so gut wie seine Besatzung.“ Der schwere Unfall eines Bootsmannes brachte ihn vor ein paar Wochen an seine Grenzen, aber am Ende meisterte er die Situation und konnte seine Crew beruhigen. Es sei hart gewesen, aber man habe es gemeinsam durchgestanden. „Hapag-Lloyd pflegt eine No-Blame-Kultur, das schätze ich sehr, denn wir sind alle fehlbar.“ Wie sehr er selbst als junger Mann von Wertschätzung und Vertrauen seiner Vorgesetzten profitierte, hat er auch nach vielen Jahren nicht vergessen: „Als ich 1994 als Kadett auf meine erste Fahrt nach Südamerika ging, waren viele alte Seebären mit an Bord. Wir haben hart geschuftet, aber die Alten haben uns Junge gut behandelt und in den Häfen immer die Zeche bezahlt – denn viel verdient haben wir nicht“, erinnert er sich und schwärmt von alten Zeiten: „Mit Bulk-Carrier-Schiffen Bananen aus Ecuador, Kolumbien und der Karibik zu holen. Ananas aus Südafrika, Kiwis aus Neuseeland und Australien – das war toll! Und überall bekamen wir riesige Paletten Obst
geschenkt.“
Unvergessen der Karneval und die Fußballweltmeisterschaft in Rio: „Die Liegezeiten waren lang, da konnten wir richtig mitfeiern, man ging ohne große Kontrollen von Bord und kam irgendwann zurück.“ In dieser Zeit habe er erlebt, wofür er als Junge seinen zehn Jahre älteren Bruder bewundert und beneidet habe: „Wir lebten in Polen hinter dem Eisernen Vorhang, aber er durfte raus und brachte Geschichten und Geschenke aus aller Welt mit.“
Was die Zukunft bringt und wie sich die Schifffahrt durch die Pandemie verändert, sei schwer zu beurteilen, so der Kapitän: „Vielleicht wird es mit dem Papierkram doch mal wieder einfacher und bestimmt überlegen sich einige Firmen, ob sich nicht doch mehr Business online erledigen lässt – wer weiß?“ Viel wichtiger ist für den Mann, der mitten in der Pandemie befördert wurde, dass er Weihnachten zuhause ist. Und rückblickend auf das Weihnachstfest sagt er: „Es war wie immer sehr feierlich – ein Weihnachtsfest mit allem Drum und Dran. Und wie jedes Jahr haben wir am späten Abend „Kevin – Allein zu Haus“, geschaut, das hat in ganz Polen Tradition!“