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Interview mit Christian Seydewitz: „Gemeinsam haben wir das neue Hapag-Lloyd geschaffen!“

In den vergangenen 18 Monaten kämpfte Chiles Wirtschaft gegen die Pandemie (weitgehend erfolgreich) und hatte mit zivilen Unruhen zu kämpfen. Christian Seydewitz, Senior Vice President Area Chile von Hapag-Lloyd, hat sich mit uns zusammengesetzt und erklärt, wie die aktuelle Situation im Land ist, was Chile zu einem sehr erfolgreichen Markt für das Reefer-Geschäft macht und warum chilenische Kirschen die chinesischen Konsumenten so glücklich machen.

Chile hat anderthalb ereignisreiche Jahre hinter sich, mit der Pandemie, aber auch einigen politischen Herausforderungen seit 2019. Wie hat sich der chilenische Markt entwickelt?

Für uns bei Hapag-Lloyd war COVID-19 sicherlich die größte Herausforderung seit langem – sowohl für den Markt insgesamt als auch speziell für die Logistikbranche. Ende 2020 konnten wir sagen, dass Chile in Lateinamerika herausragt, weil unsere Exporte nicht primär betroffen waren. Laut den letzten Marktzahlen für 2020 wuchs der Exportmarkt um 2 Prozent. Die chilenische Regierung entschied, dass Logistik und Schifffahrt zu den essenziellen Dienstleistungen gehören, die auch während strenger Lockdowns weiter betrieben werden können, solange sie COVID-19-Sicherheitsregeln beachten. Als Unternehmen haben wir viele Vorsichtsmaßnahmen getroffen und den operativen Betrieb so eingerichtet, dass er mit einem Minimum an Personal im Büro abgewickelt werden kann, das die Sicherheitsprotokolle einhält, während der Rest von zu Hause arbeitet. Zu Beginn der Pandemie gab es einige logistische Probleme, die aber schnell gelöst werden konnten.

Bedeutet das, dass unser Geschäft überhaupt nicht betroffen war?

Schauen wir uns eines der wichtigsten Exportgüter in Chile an: die Forstwirtschaft. Momentan benutzt fast jeder Mensch auf diesem Planeten Masken. Ein Teil des Rohmaterials für diese Masken kommt aus dem Wald. Außerdem ist jeder den ganzen Tag zu Hause. Die Leute haben viele Ideen, wie sie ihr Zuhause verschönern können, oder sie müssen ihr Heimbüro einrichten. Daher ist der Exportbedarf an Holz und Zellstoff immens. Ein weiteres großes Exportgut sind Lebensmittel. Chile exportiert Lachs sowie frisches und gefrorenes Fleisch wie Hähnchen und Schweinefleisch. In diesen Bereichen ist die Nachfrage stabil geblieben. Was die Importe betrifft, erlebten wir etwa fünf Wochen, in denen sie um zirka 20 Prozent zurückgingen, vor allem wegen der Ungewissheit, wie sich COVID-19 auf die Wirtschaft auswirken würde. Danach erholten sich die Importvolumina ziemlich schnell, insbesondere ab August 2020. Unterstützt wurde das durch staatliche Hilfszahlungen für die Menschen und zwei 10-prozentige Ausschüttungen aus dem Rentenfonds, die vom Parlament vorangetrieben und genehmigt wurden. Diese Maßnahmen haben die Wirtschaft mit insgesamt über 30 Milliarden Dollar angekurbelt. Das merkte man gut an der enormen Nachfrage nach allerhand Produkten, wie etwa Unterhaltungselektronik. Im Dezember 2020 konnte man nirgendwo in Chile einen Fernseher kaufen.

Konnten wir in Chile unser Reefer-Geschäft trotz allem weiter ausbauen?

Reefer-Container zurück nach Chile zu holen, ist eine der größten aktuellen Herausforderungen. Derzeit arbeiten wir hart daran, ausgeschaltete Reefer-Container (NORs) mit Trockenladung nach Chile zu bringen.
In Anbetracht der außergewöhnlichen Kirschen-Saison und der jüngsten Auswirkungen des ungewöhnlich starken Sommerregens wird für den gesamten Reefer-Markt (frisch und tiefgekühlt) ein einstelliges Wachstum erwartet. Das Wachstumspotenzial ist vorhanden, insbesondere in neuen potenziellen Märkten wie Indien. Um dieses Potenzial auszuschöpfen, streben wir eine Transitzeit von 35 Tagen für unsere Cherry- und Asia-Express-Services an.

Christian Seydewitz, Senior Vice President Area Chile at Hapag-Lloyd

Wie sieht es mit unserem berühmten Cherry Express von Chile nach China aus?

Seit wir den Cherry Express gestartet haben, sind wir der wichtigste Carrier für den Kirschentransport. Die Kirschen-Saison ist sehr anspruchsvoll. Die gesamte Erntezeit beträgt acht Wochen, aber 70 Prozent der Ladung fällt in einen Zeitraum von nur drei Wochen, in dem die Stromversorgung auf den Schiffen der entscheidende Faktor ist. Die vergangene Saison 2020-21 war mit einem Marktwachstum von über 60 Prozent unerwartet stark. Der Grund dafür ist vor allem die Stecker-Situation auf den Schiffen, aber auch die Knappheit an Containern. Für die nächste Saison beginnen wir bereits im Mai 2021 mit unseren VSA-Partnern die Kirschsaison zu planen, um sicherzustellen, dass wir während der drei wichtigsten Wochen genügend Kapazität haben. Nur so können wir unsere starke Position auf dem Kirschenmarkt halten.

Wie hat sich COVID-19 auf Sie und Ihre Kollegen in Chile ausgewirkt?

Das Land war stark betroffen – und meine Familie auch. Eine meiner Töchter hatte gerade ihr Medizinstudium abgeschlossen und arbeitet seit März 2020 mit COVID-19-Patienten. Obwohl wir alle möglichen Vorsichtsmaßnahmen getroffen haben, wurden wir nach ein paar Monaten im Juni positiv auf COVID-19 getestet. Die ganze Familie hatte es erwischt – meine beiden Töchter, meine Frau und mich. Glücklicherweise hatte keiner von uns schwere Symptome. Was Hapag-Lloyd betrifft, so haben wir, wie auch die anderen Areas, hauptsächlich von zu Hause gearbeitet. Das war eine große Umstellung für mich, denn ich liebe den direkten Kontakt mit meinem Team. Jeden Mittwoch frühstücke ich normalerweise im Büro mit etwa zehn Personen aus verschiedenen Abteilungen unseres Teams. Wir machen das immer noch, aber jetzt digital über Teams. Es ist eine gute Möglichkeit, mit dem Team in Kontakt zu bleiben, sicherzustellen, dass es allen gut geht und konstruktives Feedback zu bekommen. Wir konnten das Büro von Anfang an teilweise an drei Tagen in der Woche öffnen, um für unsere Kunden vor Ort zu sein. Natürlich nur unter strengen Hygienemaßnahmen. Ab September haben wir begonnen, jeden Tag mit freiwilliger Anwesenheit zu öffnen. Dies allerdings nur unter der Voraussetzung, dass niemand mit öffentlichen Verkehrsmitteln anreist. Dies hat sich als Vorteil für einige Leute erwiesen, die in kleinen Wohnungen leben, keinen stabilen Internetzugang oder andere persönliche Umstände haben. Es hilft ihnen, auch wenn es nur ein paar Tage in der Woche sind.

Lassen Sie uns ein wenig über die Situation in Chile im Allgemeinen sprechen. Ende 2019 hat es einige zivile Unruhen gegeben. Was ist passiert?

Im Oktober 2019 begannen Proteste – zunächst, weil es eine Erhöhung der Preise für öffentliche Verkehrsmittel gab. Die Bewegung wuchs und die Dinge eskalierten im November 2019. Es wurden strenge Ausgangssperren verhängt, um die Situation unter Kontrolle zu bekommen. Einmal waren mehr als 1,5 Millionen Menschen auf der Straße. Die Hauptforderungen waren die Verbesserung des Sozialsystems; Renten, Gesundheitsdienste und öffentliche Bildung. Allerdings wurden die regelmäßigen Freitagsproteste schnell zu einem Vorwand für einige Leute, die Stadt zu verwüsten. Ironischerweise beruhigte die Pandemie die Situation ein wenig. Im November 2019, nach einem kritischen Tag des Vandalismus, gab die Regierung dem Parlament 24 Stunden Zeit, sich auf eine Lösung zu einigen. Am Ende verständigte man sich darauf, über eine neue Verfassung abzustimmen. Der Vorschlag wurde schließlich im Oktober 2020 mit einer überwältigenden Mehrheit von 80 Prozent angenommen. Ich denke, es wird gut sein, eine modernere Verfassung zu haben, die dem Chile von heute und der Zukunft gerecht wird. Ich hoffe, dass dies der Fall sein wird.

Einige Ökonomen sagen, dass Lateinamerika durch die Pandemie um 15 bis 20 Jahre zurückgeworfen werden wird. Stimmen Sie dem zu? Wie stark wird Chile langfristig von COVID-19 betroffen sein?

Chile hat die Pandemie besser überstanden als viele andere Länder Lateinamerikas. Ich denke, dass Chile wirtschaftlich um etwa zehn Jahre zurückgeworfen werden wird. Sobald die Pandemie vorbei ist, werden wir uns schnell erholen – sofern die Regierung die richtigen Entscheidungen trifft. Das Problem in Chile ist nicht die Makroökonomie, denn die Exporte und Importe sind auf einem gesunden Level. Die Mikroökonomie ist das große Problem. Industrien wie der Tourismus, Restaurants und andere Dienstleistungen wurden von der Pandemie hart getroffen. Es wird einige Zeit dauern, bis sich diese Branchen erholen.

Der Erfolg der letzten Jahre lässt sich auf die Fusion mit CSAV zurückführen. Das war für Hapag-Lloyd der Moment, in dem wir als Global Player wieder richtig durchgestartet sind. Sie hatten eine aktive Rolle im Merger. Was ist das Geheimnis hinter diesem Erfolg?

Insgesamt wurde die Fusion sehr gut gemanagt. Was ich am meisten schätze, war, dass die Beteiligten den Anspruch hatten, ein neues Unternehmen aufzubauen. Unter der Leitung von Rolf Habben Jansen und allen, die an der Fusion beteiligt waren, wurden wirklich die besten Eigenschaften der einzelnen Unternehmen herausgearbeitet. Wir haben das Beste von CSAV genommen, das Beste von Hapag-Lloyd und später das Beste von UASC. Jeder war offen dafür, vom anderen zu lernen. Nur als Beispiel: Schauen Sie sich die wichtigsten Systeme und Tools an, die wir heute verwenden. Wir haben die starken Prozesse und Systeme von Hapag-Lloyd übernommen. Wir haben wirklich das Beste von den drei Unternehmen genommen – auch was die Menschen angeht. Die Slogans „Better together“ für den Zusammenschluss mit CSAV und „Better united“ für die Fusion mit UASC sind wirklich wahr geworden. Am Ende haben wir das Ziel, gemeinsam ein neues und leidenschaftliches Hapag-Lloyd zu schaffen, sehr erfolgreich erreicht. Und ich bin sehr glücklich und stolz, ein Teil davon zu sein.

Über Christian Seydewitz  

Christian Seydewitz hat mehr als 15 Jahre Erfahrung in der Schifffahrtsbranche. Zuvor war er sieben Jahre in der Telekommunikationsbranche und anfangs als Berater tätig, immer im Vertrieb und Verkauf. Im August 2005 begann er seine Karriere in der Schifffahrt bei CSAV, mit Sitz in Hamburg, als VP Sales & Customer Service Region Europe. Im Mai 2008 übernahm er die Leitung der CSAV Region North Europe, und im Januar 2012 kehrte er als Global Operations Manager zurück nach Chile. Nach der Fusion mit Hapag-Lloyd im Dezember 2014 wurde er zum SVP Area Chile ernannt. Diese Funktion hat er bis heute inne. Seine Freizeit verbringt er gerne mit seiner Familie, am liebsten draußen in den Bergen oder am See, um der Natur nahe zu sein. Zu seinen Hobbys gehören Lesen, Skifahren und Schwimmen.