Gut drei Stunden brauchte Kapitän Martin Specht, um seinen ersten Marathon an Bord zu absolvieren – auf dem Ruder-Ergometer im Fitnessraum der Osaka Express. Keine Frage: Der Mann hat Durchhaltevermögen und nimmt die Dinge gern sportlich. Wie er Eisberge und Taifune umschifft, warum er das Tragen einer Uniform wichtig findet und was in 13.200 Einzelteilen zuhause an der Wand hängt, erzählt er hier.
Neuruppin ist die Geburtsstadt so berühmter Persönlichkeiten wie die des Schriftstellers Theodor Fontane und des Architekten Karl Friedrich Schinkel. Ein malerischer Ort direkt am Ruppiner See, ein beliebtes Ausflugsziel für Touristen aus aller Welt. Hier lebt Kapitän Specht mit seiner Frau Stefanie und seinen Töchtern Aurelia und Victoria in einem gemütlichen Reihenhaus. Die Schwiegermutter wohnt familienfreundlich keine fünf Minuten um die Ecke, und auch zum großen Hobby der Familie Specht ist es nicht weit: Die Pferde Lilo-Fee, Shamrock, Trixi und Minea stehen in einem Pferdehof wenige Kilometer entfernt. Neuruppin liegt in Brandenburg, rund 60 Kilometer nordwestlich von Berlin und gilt laut Wikipedia als preußischste Stadt im ehemaligen Preußen. Das hat möglicherweise ein bisschen auf Martin Specht abgefärbt. Der Kapitän ist ein drahtiger, aufrechterTyp. Klare Ansagen an Bord findet er mindestens so wichtig wie tadelloses Handwerk. Seit 18 Jahren fährt er für Hapag-Lloyd, machte hier Karriere und sieht keinen Grund, je den Arbeitgeber zu wechseln.
„Bei Hapag-Lloyd sind nicht nur die Konditionen gut, es herrscht auch ein gutes Geben und Nehmen“, beschreibt Kapitän Specht das Arbeitsklima der Reederei: „Wenn Du bereit bist, auch mal einzuspringen, falls ein Kollege krank wird, oder, wenn nötig, etwas länger an Bord bleibst, kannst du sicher sein, dass auch deine Bedürfnisse berücksichtigt werden.“ Demnächst begleitet er die Einschulung seiner jüngeren Tochter, und auch bei den Geburten seiner Kinder konnte er dabei sein. Die Familienaufteilung ist klassisch, seine Frau, eine Biologin, hat mit Kindern, Haushalt, Pferden genug zu tun – und wenn Papa da ist, dann auch richtig: „Ich finde es schön, dass wir dann alle viel Zeit miteinander verbringen können und meine Frau nicht auch noch woanders arbeiten muss.“
Vom ahnungslosen Azubi zum Offizier mit Schutzanzug
Martin Spechts Arbeitszeit begann 2003 mit der Ausbildung zum Schiffsmechaniker bei Hapag-Lloyd. Auch wenn der Großvater ein Segelschiff besaß und er selbst begeistert im Verein ruderte, hatte er bis dahin nichts mit der Schifffahrt am Hut. „Ich wollte eigentlich zur Bundesmarine, aber das funktionierte nicht, da dachte ich: ,Fährst du halt woanders mit‘.“ An den ersten Einstieg auf die „Bremen Express“ in Bremerhaven erinnert er sich bestens: „Da standen wir am Pier, zwei 19-jährige Azubis ohne Ahnung und fragten uns, wo denn das Schiff sei. Die „Bremen Express“ lag wegen des Niedrigwasser sehr tief, weshalb wir die Größe gar nicht ermessen konnten. Auf der ersten Reise, damals noch ein PAX-Dienst, Richtung New York, waren wir zu nicht viel zu gebrauchen. Aber das hat sich im Lauf der Zeit natürlich geändert,“ lacht der Kapitän. Seine Ausbildung und die spätere Studienzeit in Rostock bilden heute nicht nur die Grundlage seines Könnens, sie prägten auch seine Einstellung: „Ich hatte wirklich lauter gute Kapitäne und Chief Mates, die ihr Wissen gern weitergegeben haben. Immer wenn was Interessantes los war, zum Beispiel den Separator öffnen, Kolben ziehen, Leinen spleißen oder diverse Manöverstationen beobachten, hieß es ,Kommt mit, guckt euch das an!‘. Man musste nur seinen Grips anstellen und zuhören. Und das versuche ich heute auch meinen Azubis zu vermitteln,“ erzählt der Kapitän.
Dazu gehört auch die Ladung im Blick zu behalten: „Als ich zum ersten Mal als Erster Offizier fuhr, damals auf der ,Tsingtao Express‘ ab Singapur, hatte ein Tankcontainer Leck geschlagen unter Deck, die ganze Bilge war schon vollgelaufen. Im Container war ein Rohstoff für die Parfümherstellung, glücklicherweise schwer entzündlich, aber für die Atemwege und Haut höchst giftig. Da konnten wir nur in Chemieschutzanzügen und mit Atemgeräten in die Luke. Maximal 15 Minuten konnte man es da unten aushalten, um den Schaden aufzunehmen, Fotos zu machen. Dann wieder hoch in voller Montur, wir kamen ganz schön ins Schwitzen. In Colombo musste dann die komplette Luke gesäubert werden.“
Eiskalte Begegnungen vor Kanada
Dass man auch in der Nähe von Eis ins Schwitzen geraten kann, weiß Martin Specht aus seiner Zeit als Chief Mate: „Wir waren kurz vor Neufundland mit der ,Quebec Express‘ Richtung Montreal unterwegs, ein 4045 TEU Schiff, das wir damals unter deutscher Flagge übernommen hatten. Aufgrund des schlechten Wetters fuhren wir so langsam, dass wir laut Seekarte quasi rückwärts fuhren. In der nächsten Nacht rief der Ausguck kurz vorm Dunkel werden: ,Chief Mate, Chief Mate, Eisberg!‘, und tatsächlich guckte vor uns ein Growler aus dem Wasser, das sind Eisbrocken, die nur wenige Meter über die Wasseroberfläche reichen und bis zu fünf Meter lang sind, dafür aber extrem tief gehen und im Radar schlecht bis gar nicht zu sehen sind. Meistens kommt einer nicht allein.“ Nachdem Chief Mate Specht abwechselnd mit dem Kapitän unbeschadet Richtung Sankt-Lorenz-Strom navigiert hatte, entdeckte die Crew das nächste Hindernis auf dem Radar: „Eine durchgezogene Linie, was nichts anderes als eine geschlossene Eisdecke bedeutete. Keiner von uns wusste, was zu tun war. Es war schon dunkel, wir schalteten dann die Suchscheinwerfer ein und tasteten uns langsam voran, immer im Schichtwechsel, sechs Stunden Schlaf, sechs Stunden Brücke. Am nächsten morgen kam endlich der Lotse und geleitete uns die verbleibenden 18 Stunden nach Montreal. Nach so einem Einsatz freut man sich noch mehr auf den Urlaub“, grinst der 37-Jährige.
Frisch befördert zum Taifun
Irgendwann in dieser Zeit dachte Martin Specht zum ersten Mal: „Eigentlich kann ich es jetzt.“ Kapitän werden, Entscheidungen treffen, endlich die volle Verantwortung für Schiff und Besatzung übernehmen. „In meinen acht Jahren als Chief Mate habe ich so ziemlich alles erlebt. Vom Unwetter bis Unfall, vom unendlich weiten Pazifik bis zum Bosporus.“ Letzterer sei immer wieder ein Abenteuer: „Dort ist es teilweise so eng, dass du ohne Fernglas sehen kannst, was die Leute auf den Balkonen auf dem Teller haben.“
2019 war es endlich so weit: „Wir waren mit der Tsingtao Express unterwegs, als Personalchef Arnold Lipinski mich anrief und sagte ,Wenn die nächste Beurteilung so gut ist wie die letzte, sollten wir uns treffen!“ Gesagt, getan – Martin Specht bekam nach dem üblichen Procedere am Ballindamm sein Kapitänspatent, flog wenige Wochen später nach Los Angeles und übernahm die Osaka Express. „Nach einer Woche Einarbeitungszeit bis Oakland gab mir der Kapitän seine Handynummer, sagte ,Wenn was ist, ruf an!‘ und verließ das Schiff. Auch das schätze ich an Hapag-Lloyd: Du wirst nicht allein gelassen.“ Es folgte ein Doppeleinsatz von Oakland nach Japan, rüber nach China und wieder retour, zweimal sechs Wochen. „Die erste Reise war entspannt, die Leute sehr erfahren, das Wetter ein Traum. Aber beim zweiten Mal hatten wir eine Taifunwarnung zwischen Japan und China. Unsere Routenberatung schlug drei Möglichkeiten vor, da halbwegs gut durchzukommen, aber als Kapitän hatte ich jetzt das letzte Wort und entschied, dass wir den Taifun vor uns durchziehen lassen. Besatzung, Schiff und Ladung zu schützen, ist oberstes Gebot!“, betont Kapitän Specht. Zwei weitere Dinge findet er wichtig: „Auch wenn manche Kollegen Uniformen nicht so mögen: Ich finde, sie gehören an Bord einfach dazu. Nicht nur, weil sie gut aussehen, sondern einen brauchbaren Zweck erfüllen: Wenn jemand an Bord kommt, kann er gleich erkennen, wer Kapitän, wer Chief Mate oder Wachoffizier ist und muss sich nicht lange durchfragen zu seinen Ansprechpartnern.“ Und was ist die andere Sache? „Das hat eher was mit der Arbeitsmoral und Rost zu tun. Es gibt Arbeiten, die keiner gern macht, die aber erledigt werden müssen. Beispielsweise die Sunken Spaces unterhalb der Cross Bays zu entrosten und zu malen. Da unten ist es permanent feucht und folglich rostanfällig. Wenn Du das nicht gleich bis in die letzte Ecke ordentlich machst, kannst du es auch lassen. Solange allerdings alle ihren Job vernünftig machen, brauche ich da nicht ständig hinterher zu sein.“
Von Weihnachtsmärkten, Puzzles und freier Zeiteinteilung
Dass Martin Specht gleich zu Anfang seiner Kapitänszeit mit der Pandemie klarkommen musste, war für ihn keine große Sache. „Wir konnten auf keinen Weihnachtsmarkt, also haben wir den an Bord veranstaltet. Mit Glühwein und allem, was dazu gehört.“ Außerdem kam ihm da sein Hobby zu Hilfe: „Ich puzzle schon seit ich denken kann, unser ganzes Haus hängt voller Puzzles, meist maritime Motive. Auf die letzte Fahrt brachte ich ein 5000-Teile Puzzle, eine antike Seekarte, mit an Bord. Das lag in der Offiziersmesse und jeder der vorbei kam, hat ein paar Teile zusammengefügt, wir haben es im Team tatsächlich fertigbekommen. Stolz ergänzt der Kapitän, dass zuhause sogar ein 13.200 Teile Puzzle hängt. Eine alte Weltkarte, die er mit zwei Kommilitonen am Anfang des Studiums zusammengefügt hatte. „Die hängt jetzt bei uns an der Wand!“, freut sich Kapitän Specht. Und wie kam er auf die Idee mit dem Marathon an Bord? „Ach, das wollte ich schon immer mal machen. Familienbedingt habe ich das Rudern zuhause im Verein aufgegeben. Letztes Jahr habe ich dann an Bord wieder angefangen zu trainieren und kurz vorm Ausstieg meine freie Zeit genutzt. Nach drei Stunden und 15 Minuten war ich fix und fertig, aber auch ziemlich stolz.“ Das sei neben den vielen anderen Dingen das Schöne auf See: „Wenn es passt, kannst du dir deine Zeit frei einteilen und eben auch mal einen Marathon rudern.“