Als Matrose fuhr Christian Müller Ende der 1950er Jahre nach Süd- und Nordamerika, erlebte die Entstehung der Containerschifffahrt und die Fusion von Hapag-Lloyd hautnah. In London und San Francisco arbeitete er als Operator, bevor er die Kreuzschifffahrt für sich entdeckte – und schließlich Personalchef wurde. Hier erzählt der Kapitän von seinen Anfängen, welche Chancen sich in den 1970er Jahren für Nautiker ergaben und warum er stolz ist, dass bis heute in der Personalabteilung erfahrene Seeleute das Sagen haben.
Habenhausen ist ein idyllischer, fast ländlicher Stadtteil der Hansestadt Bremen. Nördlich begrenzt vom Werdersee, östlich fließt die Weser vorbei. Gemütliche Einfamilienhäuser säumen die ruhigen Straßen, das Naherholungsgebiet gleich um die Ecke lädt zu langen Spaziergängen ein. Von hier spazierte der 17-jährige Christian Müller 1957 in die weite Welt. „Mein Vater arbeitete nach dem Zweiten Weltkrieg als Hausarzt, er war weit und breit der Einzige mit einer riesigen Praxis und hatte mich als Nachfolger im Sinn. Aber das altsprachliche Gymnasium, auf das er mich schickte, war nichts für mich, ich bin gescheitert – zum Glück! Auf der nächsten Schule lernte ich im April 1956 meine zukünftige Frau kennen.“ Die Augen des heute 81-jährigen leuchten, Gattin Marianne sitzt an seiner Seite am gedeckten Gartentisch und verdreht spöttisch liebevoll die Augen: „Du sollst doch von der Seefahrt erzählen!“ Ohne seine Frau wären die Anfänge der Fahrten aber nur halb so romantisch gewesen, findet Christian Müller: „Marianne ging 1960 für ein Jahr als Au-Pair nach Amerika. Da war ich gerade Matrose beim Norddeutschen Lloyd geworden. Ich setzte mich aufs Rad, fuhr zur Heuerstelle in den Überseehafen und fragte, ob ich ein Schiff zur Westküste Nord bekommen könnte.“ Wenige Wochen später wartete Marianne „zufällig“ am Pier von Long Beach auf ihn. Mutter und Großmutter hatten die Begegnung eingefädelt. Aus dem lockeren Liebelei wurde eine feste Beziehung und obwohl es der Kapitän der „Bartenstein“ kritisch beäugte, stieg Marianne auf der Rückreise an Bord und fuhr gemeinsam mit ihrem Zukünftigen zurück in die Heimat. Selbstverständlich in getrennten Kabinen.
Post aus Chile, Fahrten mit Kaffee und Baumwolle, Erster Offizier nach der Fusion
Gut sechzig Jahre später erinnert sich Christian Müller daran wie gestern und ebenso an die vielen Stationen seiner Tätigkeit für Hapag-Lloyd. Gerade kürzlich steckte der Kapitän seine markante Nase wieder mal in die Vergangenheit: Unzähligen Briefe und Tonbänder, die sowohl er als auch die drei Söhne und seine Frau über die Jahre hin und her schickten, lagern im Keller. „Ich fand einen Brief aus Chile, in dem ich den Kindern den Besuch einer katholischen Kirche in Antofagasta ausführlich beschrieb – aber katholisch war ich nie“, lacht der Kapitän. Die ersten Jahre, als die Jungs klein waren, seien hart gewesen, berichtet der Bremer und seine Frau nickt: „Wenn Christian losfuhr, habe ich erst mal das ganze Haus von oben bis unten geputzt – dann trat eine große Leere ein. Obwohl ich mit den Jungs genug zu tun hatte, vermisste ich meinen Mann sehr, das wurde erst besser, als ich später mitfuhr.“
„Liebenstein“, „Buntenstein“, „Moselstein“ hießen u.a. die Schiffe, mit denen Christian Müller als Vierter, Dritter und Zweiter Offizier unterwegs war. „Die meisten Fahrten gingen nach Mittelamerika, wir luden Kaffee und Baumwolle, krochen noch selbst durch die Laderäume, das war schwere körperliche Arbeit“, erinnert er sich. Mit der Fusion des Norddeutschen Lloyd mit der HAPAG 1970 und der einsetzenden Containerschifffahrt änderte sich dann nicht nur die Arbeitsweise und die Einsatzgebiete – Christian Müller wurde auch als erster des Norddeutschen Lloyd zum Ersten Offizier befördert: „Ich kehrte gerade von einer dreimonatigen Reise zurück, als der Anruf kam, ob ich am nächsten Tag einspringen könne Richtung Brasilien – meine Frau war nicht gerade begeistert, es gab Tränen. Aber nachdem wir ausgehandelt hatten, dass sie auf der nächsten Reise mitfahren durfte, sagte ich zu.“
Als Operator nach London und San Francisco
Die Fusion der Hamburger mit der Bremer Reederei zu Hapag-Lloyd brachte Veränderungen für viele Seeleute – Christian Müller berichtet von den Chancen, die sich dadurch für Nautiker ergaben: „Auch wenn auf dem Wasser durch die neuen Containerschiffe weniger Personal gebraucht wurde: Der Bedarf an Land wuchs weltweit. Miami, Hongkong, Singapur, Manila – du konntest als Operator in der ganzen Welt arbeiten.“ So sehr er seine Jahre auf See, die langen Liegezeiten in Sydney inklusive Opernbesuch oder die Ausflüge mit weißem Chevrolet in San Francisco genossen hatte: „Als ich 1979 gefragt wurde für drei Jahre nach London zu gehen, um dort die Befrachtung unserer Schiffe zu organisieren, musste ich nicht lange überlegen – mit Sack und Pack zogen wir an die Themse!“ Die Arbeit im Konsortium mit Kollegen anderer Reedereien war neu und interessant, das Leben in der britischen Metropole familienfreundlich. „Unsere Kinder konnten mit dem Rad zur Deutschen Schule und zum Tennis fahren, meine Frau sprach ohnehin gut Englisch, verbesserte ihre Kenntnisse noch auf der Abendschule und studierte Kunstgeschichte“, erinnert sich Christian Müller. Nach drei Jahren schickte ihn Hapag-Lloyd 1983 wieder auf große Fahrt. „Aber schon auf der zweiten Reise mit der Sierra Express Richtung Südamerika erhielt ich einen Anruf – es war eines der ersten Schiffe mit Telefon – ob ich mir vorstellen könne, nach San Francisco zu gehen, es gäbe einen Deal mit der amerikanischen Schifffahrtsgesellschaft „SeaLand“. So zogen wir mit unserem Jüngsten 1985 für ein Jahr an die Westküste.“ Kaum zurück in Bremen, Kapitän Müller wollte gerade die Wohnzimmerwände streichen, die Umzugscontainer war noch unterwegs, meldete sich die Personalabteilung – und hatte erneut London im Angebot: „Innerhalb von 24 Stunden mussten wir uns entscheiden und zogen 1986 kurzerhand ein weiteres Mal um. Die internationale Arbeit mit den Kollegen war abwechslungsreich und gefiel mir persönlich mindestens so gut wie die Seefahrt.“
Rauf aufs Kreuzfahrtschiff und endlich Kapitän
„Müller, wir wollen Sie auf der ,Europa‘ haben!“, sagte der Personalchef eines Tages am Telefon. Christian Müller lacht: „Ich reagierte verdutzt, bisher fuhren da doch immer Kollegen, die mindestens ein ,von‘ im Nachnamen hatten.“ Aber mit der Aussicht als Kapitän über die Meere zu fahren, war die „Europa“ ein gute Option. „Erst mal wurde ich auf der Leverkusen Express in Vancouver 1989 zum Kapitän ernannt“, erzählt Christian Müller stolz: „Ich fuhr als Erster Offizier hin, dann drückte mir der Kapitän mein Beförderungsschreiben in die Hand. Draußen wartete schon sein Wohnmobil, mit dem er eine Tour nach Alaska startete.“ Staff Kapitän auf der Europa war eine weitere, neue Herausforderung. „So gut ich mich in der Befrachtung unserer Schiffe und der Navigation auskannte, jetzt war ich für sämtliche Belange der Besatzung verantwortlich. Ob Streitereien unter Seemännern, die geräuschlos geschlichtet werden mussten, Verhandlungen mit dem Betriebsrat oder neue Matratzen für die Besatzung, all das landete bei mir.“
Abwechslungsreiche Jahre in der Konzernzentrale und die Sache mit dem Rücken
Insgesamt drei Jahre fuhr Christian Müller auf der „Europa“, wechselte zwischendurch wieder in die Containerschifffahrt, bis sich ein neuer Job an Land ergab: Die Leitung der Personalabteilung von Hapag-Lloyd am Ballindamm. Und hier konnte er die Summe all seiner Erfahrungen einbringen. Christian Müller begleitete das Projekt „Schiff der Zukunft“, organisierte das Recruiting der Philippinischen Seeleute Mitte der 1990er, kümmerte sich gemeinsam mit seinem Team um Weiterbildung und Kurse für die Kollegen, die nach der Wende neuen Jobs bei Hapag-Lloyd fanden. „Acht Jahre, in denen ich die Seefahrt noch mal aus einer völlig neuen Perspektive kennenlernte.“ Und er setzte alle Hebel in Bewegung, wenn irgendwo auf hoher See Unvorhergesehenes eintrat: „Ich war gerade in Bremen unterwegs, ein Fahrrad kaufen, als mich der Notruf eines Ersten Offiziers erreichte. Bei schlechtem Wetter hatte sich der Kapitän schwer verletzt – er war bei einem Rundgang bei hoher Dünung gegen die Ankerwinde geschleudert worden. Ich sagte nur ,Sie müssen darauf bestehen, dass ein Hubschrauber kommt, sonst stirbt der Kapitän!‘, der Hubschrauber holte den Verletzten ab, allerdings bekam ich keinen Kontakt zu dem Krankenhaus irgendwo in Süd-Irland.“ Kurzerhand rief Christian Müller seinen Sohn an, der mittlerweile als Arzt in Mainz arbeitete, und bat ihn um Unterstützung. „Er fand über seine Kanäle heraus, dass der Oberarzt der Klinik beim Fischen war – und sorgte dafür, dass dieser sofort zurückkehrte. Der Kapitän wurde dann in die nächstgrößere Klinik nach Cork geflogen. Später ließen wir ihn nach Bremen verlegen, wo ich ihn dann besuchte.“
In den letzten Jahren hatte der Personalchef dann selbst mit Schmerzen zu kämpfen: „Mein Rücken spielte nicht mehr mit, auch eine OP verschaffte keine Besserung. 2001, nach vielen wunderbaren Jahren bei Hapag-Lloyd reichte ich die Kündigung ein.“ Heute geht es dem sportlichen 82-Jährigen wieder besser, „Ich kann sogar wieder Tennis spielen“, freut sich der Kapitän und Personalchef. Auch wenn er nicht mehr aktiv bei Hapag-Lloyd tätig ist, verfolgt er die aktuellen Ereignisse mit Interesse, so auch den Einstieg von Hapag-Lloyd beim Weser Port Wilhelmshaven: „Aus meiner Sicht gibt es viele Gründe, diesen Weg einzuschlagen: größere Containerschiffe in Bezug auf Länge, Breite und Tiefgang, kurze Revierfahrten im Vergleich zu Hamburg und Bremerhaven und Konkurrenzfähigkeit zu Rotterdam und Antwerpen.“ Dass in der Personalabteilung nach wie vor erfahrene Seeleute das Sagen haben, findet Christian Müller unverzichtbar: „Für unsere Männer und Frauen auf den Schiffen ist es unglaublich wichtig, dass in den Büros am Ballindamm Menschen arbeiten, die wissen, wie das Leben an Bord verläuft. Das gehört zu den großen Stärken von Hapag-Lloyd!“