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„Unseren Seeleuten geht es grundsätzlich gut“ – Interview mit Silke Muschitz

Als Kapitän:in zur See zu fahren ist für viele ein Traumberuf, der jedoch auch viel Verantwortung mit sich bringt. Silke Muschitz, Senior Director Marine Human Resources bei Hapag-Lloyd, ist seit 2005 zur See gefahren, 2018 wurde sie Kapitänin. Zwei Jahre später ging sie an Land und ist verantwortlich für das zur See fahrende Personal bei Hapag-Lloyd. Im Interview spricht Silke über die Situation unserer Seeleute während der Corona-Pandemie, welche Eigenschaften für eine Karriere als Kapitän:in vorausgesetzt werden und was sie am meisten am Leben auf See vermisst.

Silke, die Corona-Pandemie hält uns weiterhin in Schach. Wie geht es unseren Seeleuten?

Silke Muschitz: Unseren Seeleuten geht es grundsätzlich gut. Selbstverständlich herrscht an Bord eine gewisse Corona-Müdigkeit, wie bei uns allen. Die Pandemie stellt uns vor Herausforderungen, die wir vorher nicht kannten. Seeleute hatten auch vor der Pandemie nur sehr begrenzte Möglichkeiten an Land zu gehen, aber nun müssen sie auch ihre Freizeit im Hafen an Bord verbringen. Wenn sie dann während des Höhepunkts einer Corona-Welle nach Hause kommen, erwartet sie dort möglicherweise ein Lockdown. Das ist frustrierend.

Was uns die größten Sorgen bereitet, ist die medizinische Versorgung der Seeleute. Besonders die Omikron-Variante von COVID-19 hat zu Ansteckungen geführt. Wir hatten Seeleute, die auf See krank wurden, und standen vor der Frage, was mit ihnen passiert. Denn nicht in allen Ländern ist eine ausreichende medizinische Versorgung möglich. Das ist schon bei Zahnschmerzen sehr belastend, wenn man drei bis vier Wochen nicht zum Zahnarzt kann. Bei COVID-19-Symptomen ist es natürlich noch besorgniserregender.

Wir merken auch deutlich, wie schnell sich Corona aktuell ausbreitet. Teilweise fallen Besatzungswechsel aus, weil sich die Person zu Hause in Quarantäne begeben muss und damit ist die Ungewissheit ein ständiger Begleiter für unsere Seeleute an Bord geworden. Glücklicherweise haben aber viele Länder ihr Einreiseprotokoll geändert, so dass wir in der Organisation der Ablösungen wieder flexibler geworden sind. Es gibt jedoch weiterhin ein paar Länder, in denen auch nach zwei Jahren Pandemie immer noch kein Crewwechsel möglich ist.

Während der Pandemie waren einige Seeleute länger als ein Jahr an Bord. Was bedeutet so etwas für die Kolleginnen und Kollegen?

Es ist eine große Belastung. Ein Jahr an Bord eines Schiffes bedeutet, dass man 365 Tage am Stück im Schichtbetrieb durcharbeiten muss. Das ist eine Leistung, die ein Mensch nicht auf gleichbleibenden hohen Niveau erbringen kann und die irgendwann auch körperliche Auswirkungen hat. Hinzu kommt, dass unsere Seeleute oft nicht genau wissen, wie es der Familie zu Hause geht, da sie über das Smartphone nicht alles mitbekommen können. Sie sind dann irgendwann nicht nur körperlich, sondern auch mental ausgelaugt. Dies hat irgendwann eine Auswirkung auf den gesamten Schiffsbetrieb. Viele Kapitäninnen und Kapitäne haben tolle Wege gefunden, ihre Crews zu entlasten. Aber wenn sie ein Jahr an Bord eines Schiffes verbringen, sind sie trotzdem erschöpft, wenn sie nach Hause kommen. Es gab zum Beispiel Fälle, in denen ein Seemann an Bord gegangen ist, als seine Frau schwanger war, und als er wieder zurückgekehrt ist, hat das Baby bereits die ersten Worte gesprochen.

Was können Kapitäninnen und Kapitäne tun, um die Seeleute bei Laune zu halten?

Das Wichtigste ist natürlich, für ein gutes Miteinander an Bord zu sorgen. Die Kapitäninnen und Kapitäne müssen auch evaluieren, wo sie die Arbeitszeiten so anpassen können, dass es zu einer gewissen Entlastung führt. Zudem sollte es ein gutes Angebot an Freizeitaktivitäten geben. Zwar gab es bereits vor der Pandemie Kicker- oder Tischtennisturniere, an die ich mich auch aus meiner eigenen Zeit auf See erinnere. Unter den heutigen Umständen müssen Kapitäninnen und Kapitäne jedoch dafür sorgen, dass so etwas viel regelmäßiger angeboten wird. Sie müssen auch darauf achten, dass die Crew nicht die ganze Zeit auf der Kammer am Smartphone sitzt, um zu schauen, wie die Situation zu Hause ist – denn gute Nachrichten sind dort im Moment etwas rar gesät. Es muss ein Ausgleich geschaffen werden.

Wir sind gerade auf der Suche nach neuen Kapitäninnen und Kapitänen für Hapag-Lloyd. Was sind die Auswahlkriterien?

Ein besonders wichtiges Kriterium ist Belastbarkeit – das hat durch die Pandemie noch einmal an Bedeutung gewonnen. Schließlich tragen Kapitäninnen und Kapitäne die Verantwortung für 22 Seelen an Bord und sie müssen zusätzlich zu den eigenen Problemen auch die Probleme der Crew bewältigen. Darüber hinaus ist Stressresistenz gefragt und auch sie hat durch Corona noch einmal eine ganz andere Gewichtung bekommen. Kapitäninnen und Kapitäne müssen zudem besonnen sein – denn wir brauchen zuverlässige Ansprechpartner:innen an Bord und so spielt auch die Kommunikationsfähigkeit eine wichtige Rolle. Insbesondere in Notsituationen müssen wir uns mit ihnen auf Augenhöhe austauschen können.

Was ist für eine Kapitänin anders als für einen Kapitän?

Es gibt keine großen Unterschiede. Wer die richtigen Qualifikationen hat, wird von der Crew akzeptiert – egal, ob es sich um eine Kapitänin oder einen Kapitän handelt. Ab und zu kommt es an Häfen zu Berührungsängsten, weil es eine Seltenheit ist, dass eine Frau das Sagen an Bord hat.

Natürlich habe ich auch Gegenwind erfahren – gerade am Anfang meiner Karriere. Ich wurde oft gefragt, ob ich wirklich zur See fahren will. Man darf sich aber nicht von seinen Zielen abbringen lassen, wenn man sie erreichen möchte. Manchmal muss man auch ein wenig dickköpfig sein, um seine Träume zu verwirklichen. Ferner bietet die Karriere als Kapitän:in einen ganz klaren Weg, denn die Fähigkeiten die man haben muss, um zur nächsten Stufe zu erklimmen sind in der Seefahrt klar definiert. Ich denke, dass das den Beruf attraktiv macht.

Es gibt auch vieles, das ich am Leben auf See vermisse, seitdem ich an Land gewechselt habe. Mir fehlt zum Beispiel die Freiheit an Bord. So ein Schiff ist vergleichbar mit einer eigenständigen Stadt, und die Crew ist wie eine Familie – es gibt sehr viel Gestaltungsspielraum. Ich vermisse auch den kurzen Weg zur Arbeit. Besonders als Kapitänin war es sehr angenehm, da ich meine Kammer direkt unter der Schiffsbrücke hatte – ich war innerhalb von einer Minute am Arbeitsplatz. Im Grunde hatte ich nur zweimal im Jahr eine lange Anfahrt, wenn ich von zu Hause zum Schiff fahren musste.

Sie sind die erste Frau, die in die Lübecker Schiffergesellschaft aufgenommen wurde – eine Gesellschaft, die schon seit 621 Jahren besteht. Zudem zählte Sie die Wirtschaftszeitschrift Capital dieses Jahr zu den „Top 40 unter 40“ und somit zu den wichtigsten Talenten, die Deutschland prägen. Wie fühlen Sie sich dabei?

Für mich persönlich und an meiner Selbstwahrnehmung hat sich nicht viel verändert. An der Auszeichnung von der Capital ist aber sehr schön, dass meine Leistung anerkannt wird – und zwar nicht nur von Vorgesetzten, Freunden oder der Familie, sondern von einem unabhängigen Gremium. Das gibt mir eine tiefe Zufriedenheit – insbesondere nach den Strapazen der letzten zwei Jahre mit den Crewwechseln und der Corona-Pandemie.

Dass ich in die Lübecker Schifffahrtsgesellschaft aufgenommen wurde, bedeutet mir sehr viel. Zum einen, weil ich lange in Lübeck gewohnt habe. Aber auch, weil es ein schönes Zeichen ist, dass eine Gesellschaft, die seit 1401 besteht, nach so langer Zeit zum ersten Mal eine Frau aufnimmt. Es bedeutet, dass die Veränderung für uns Frauen immer mehr Fahrt aufnimmt – und das freut mich sehr.

Was macht Hapag-Lloyd für eine Kapitänin besonders?

Das Unternehmen hat sich in 175 Jahren immer wieder neu erfunden und ist trotzdem beständig in seinen Werten geblieben – und Werte sind das Wichtigste an Bord. Als Kapitän:in ist Vertrauen enorm wichtig, nicht nur in die Crew, sondern auch in die Reederei. Dieses Vertrauen muss an Bord weitergegeben werden können. Das Gefühl von Zugehörigkeit und Anerkennung ist ein anders, wenn man bei einer Reederei arbeitet und nicht für eine Agentur oder ein Subunternehmen, das irgendwo auf der Welt sitzt. Ich kann an die Alster gehen, mir das Hapag-Lloyd Gebäude angucken und ich weiß, dass ich dazu gehöre.

Über Silke Muschitz
Silke Muschitz hat 2005 als See-Auszubildende bei Hapag-Lloyd angefangen. 2010 wurde sie Offizierin und 2018 Kapitänin. Im Jahr 2020 ist sie an Land gegangen, um ihre derzeitige Position als Senior Director Marine Human Resources anzutreten, in der sie für das zur See fahrende Personal bei Hapag-Lloyd verantwortlich ist.