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Ein halbes Jahr Krieg in der Ukraine: Interview mit Valeriy Leonov

Seit dem Beginn des Krieges in der Ukraine ist nun ein halbes Jahr vergangen. Seither ist viel passiert! Wir haben mit Valeriy Leonov gesprochen, der für ein 20-köpfiges Team in Odessa verantwortlich ist, und fragten ihn nach den aktuellen Entwicklungen in der Ukraine.

Hallo Valeriy, der Krieg dauert nun schon ein halbes Jahr an. Was denkst Du über die aktuelle Situation in der Ukraine?

Wir sollten auf jede politische Spekulation verzichten, aber eines ist trotzdem erwähnenswert: Der Einfluss externer Faktoren auf den Verlauf dieses Konflikts ist extrem stark, vielleicht sogar entscheidend. Das sorgt bei uns für eine große Unsicherheit. Derzeit ist die ukrainische Wirtschaft in hohem Maße von externen Krediten abhängig. Ganze Industriezweige mussten ihren Betrieb einstellen oder reduzieren – aufgrund unterbrochener Lieferketten, fehlender Arbeitskräfte, blockierter Häfen, der Besetzung ukrainischen Staatsgebiets durch Russland und so weiter. Zusammen mit dem übrigen Europa fragen wir uns, was die kommende Wintersaison bringen wird. Die Energiekrise wird energieabhängige Industrien, wie die Metallindustrie und die chemische Industrie, hart treffen. Sie wird auch die Landwirtschaft, unseren größten Exportsektor, erheblich beeinträchtigen. Trotz alledem müssen meine Landsleute weiterhin gleichzeitig leben, arbeiten und kämpfen.

Wie geht es Dir und unseren Kolleginnen und Kollegen in Odessa?

Wir tun unser Bestes, um unsere Geschäfte fortzusetzen und gleichzeitig mit der neuen Realität fertig zu werden, dass wir zurzeit ein Binnenland sind. Die Nachfrage nach Containertransporten in die und aus der Ukraine ist nach wie vor hoch. Nach dem ersten Schock haben sich die großen Container-Reedereien angepasst und setzen nun ihren Betrieb über Rumänien, Nordeuropa und die adriatischen Häfen fort. Gemeinsam mit der Region South Europe haben wir einen Geschäftsplan verabschiedet, um in der Ukraine weiterhin präsent zu sein, mit dem Ziel, bis Ende 2022 pro Monat 1.000 TEU zu erreichen. Das gäbe uns eine Zukunftsperspektive und die Möglichkeit, weiterhin hier in Odessa zu leben. Zwei Kolleg:innen aus unserem Büro arbeiten seit Juni und Juli in Bukarest, Rumänien. Sie unterstützten ukrainische Kunden bei der Freigabe ihrer End-of-Voyage-Ladung, die den Hafen von Constanta blockierte. Dabei waren sie sehr erfolgreich. Jetzt sind beide zurück in Odessa.

Nach etwa sechs Monaten hatten wir uns an unsere neue Realität angepasst. Die meisten von uns haben sich mittlerweile an die regelmäßigen Luftangriffswarnungen gewöhnt, so dass sich fast niemand mehr versteckt. Im Gegenteil: Die Kinder spielen, die Menschen sitzen in Cafés und Restaurants und unterhalten sich. In der Stadt geht das Leben einfach weiter. Viele meiner Landsleute sind in den letzten zwei Monaten mit ihren Kindern aus dem Ausland zurückgekehrt. Das ist ein sehr ermutigender Anblick.

Sind die Grundversorgung und die Infrastruktur intakt?

Auf jeden Fall. Eine Überraschung in diesem Krieg ist, dass fast die gesamte lebenswichtige Infrastruktur noch intakt ist. Viele Häfen, Autobahnen, Brücken, Strom- und Wasserwerke, die nicht an der Front liegen, wurden nicht angegriffen. Die meisten staatlichen und kommunalen Dienste, die in den ersten Monaten unterbrochen waren, funktionieren jetzt wieder normal. Ich muss jedoch betonen, dass dies nur für die Gebiete westlich der Frontlinie gilt.

In welcher Hinsicht hat sich Dein Alltag am meisten verändert?

Ich würde sagen, dass ich fokussierter und verantwortungsbewusster geworden bin. Jeder neue Tag kann neue Herausforderungen mit sich bringen, die sich auf unsere Angehörigen, unsere Arbeit und unsere Kolleginnen und Kollegen auswirken. Diese Aussicht zwingt einen dazu, für alle Eventualitäten und mögliche Folgen vorauszuplanen. Wir müssen proaktiv sein. Ich habe auch gelernt, mein Leben von Tag zu Tag zu leben. Das mag wie ein Widerspruch zu meiner vorherigen Aussage klingen, ist es aber nicht.

Ist die Bereitschaft zu helfen noch hoch, und kommt die Hilfe auch wirklich an? Was wird im Moment am meisten gebraucht?

Ich möchte unserem Unternehmen meinen aufrichtigen und herzlichen Dank für die Art und Weise aussprechen, wie es sich um seine Mitarbeiter:innen kümmert. Wir haben dies bereits mehrmals bei unseren regelmäßigen wöchentlichen Appellen zum Ausdruck gebracht. Viele Menschen um uns herum haben nicht so viel Glück. Wir wissen das sehr zu schätzen, und wir werden uns dafür revanchieren, indem wir neue Geschäftsmöglichkeiten eröffnen, sobald diese greifbar sind. Meiner Meinung nach ist das die angemessene Reaktion. Wir sollten uns nie als Opfer sehen.

Wir sehen auch, dass die „Hapag-Lloyd Cares“-Kampagne mit ihrem Konzept der Freiwilligenarbeit vielen einfachen Ukrainern und ihren Familien zugutekommt, und zwar auch denen, die keinerlei Beziehung zum Unternehmen haben. Die Hilfe hat nie aufgehört zu kommen. Das ist sehr ermutigend zu sehen. Was wir alle im Moment am meisten brauchen, ist Arbeit. Wir müssen einfach erfinderisch sein, bis die Ukraine wieder genügend Güter produziert.

Wie informierst Du dich über die aktuellen Ereignisse in der Ukraine?

Ich bevorzuge Messaging-Dienste als Quelle, weil ich das Gefühl habe, dass die Nachrichtenmedien viel Propaganda verbreiten und die großen sozialen Netzwerke zensiert werden. Diese konsultiere ich jedoch für Wirtschafts-, Geschäfts- und Industrienachrichten. Zusammen mit den Kommentaren aus Messaging-Apps verschaffe ich mir so einen guten Überblick.

Was gibt Dir persönlich Kraft in der aktuellen Situation?

Ich schöpfe viel Kraft aus dem Gefühl, für meine Familie, meine Kolleginnen und Kollegen sowie mein Unternehmen nützlich zu sein. Mein persönliches Ziel ist es, in dieser sich ständig verändernden feindseligen Umgebung bei Verstand zu bleiben. Zu diesem Zweck treibe ich gerne Sport im Freien – wie Laufen und Schwimmen im Meer – und lese Bücher über Geschichte. Diese eröffnen Perspektiven für die möglichen Folgen unserer aktuellen Situation.

Über Valeriy
Von 2008 bis 2021 arbeitete Valeriy für Hapag-Lloyd als Managing Director für eine von der ARKAS-Gruppe geführten Drittagentur. Im Juni 2021 übernahm er dann die Verantwortung für unser 20-köpfiges Team in Odessa.

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