Kim Jes Nagies ist ein echtes Nordlicht. Er wohnt in Brunsbüttel direkt am Deich – mit Blick auf die Elbel. Seit 2018 arbeitet er als Nautischer Wachoffizier bei Hapag-Lloyd. Als er am 10. Januar 2020 in Korea an Bord der Ulsan Express (13.200 TEU) geht, da ahnte er noch nicht, dass das der Beginn einer unvergesslichen Reise werden würde. Und das alles Dank COVID-19.
Erst wenige Wochen vor Reiseantritt hatte Nagies erfahren, dass seine Frau schwanger ist. Und so wurde seine Reise auf der Ulsan Express entsprechend geplant: etwa acht Wochen auf See, dann ein Kurzurlaub in Brunsbüttel zum Renovieren der Wohnung. Und dann eine Rundreise auf der Valparaiso Express. Pünktlich zur Geburt seines ersten Kindes würde er zurück sein. Aber wie sagt ein altes Sprichwort: „Wie bringt man Gott zum Lachen? – Erzähl ihm von deinen Plänen.“
Ende Februar ging Nagies in Israel bei Traumwetter an Land. Es sollte sein letzter Landgang für viele Monate sein. Denn Anfang März wurde immer deutlicher, dass alle Häfen weltweit mit massiven Einschränkungen wegen COVID-19 reagierten würden. Je näher sein geplanter Urlaub rückte, desto restriktiver die Regelungen. Crewwechsel in Korea? Nicht möglich. China? Verboten. Türkei? Nicht gestattet. Israel? Keine Möglichkeit. Ein Anruf zuhause in Brunsbüttel: „Ich kann zum Renovieren nicht kommen. Aber zur Geburt werde ich pünktlich da sein.“ Danach nochmal derselbe Umlauf: wieder nach China, Singapur, Hong Kong, Taiwan. Wieder kein Landgang, wieder kein Crewwechsel.
Im Juni liegt das Schiff auf vor Korea – vier Wochen lang mit Blick auf den Hafen. Landgänge? Keine Chance. Erneuter Anruf zuhause: „Ende Juni wird es klappen“ – „Ich glaube es erst, wenn du wirklich im Flugzeug sitzt“, sagt Nagies´ Frau lakonisch.
Endlich ein gutes Zeichen: der Azubi an Bord darf in Südkorea das Schiff verlassen. Aber das bleibt eine Ausnahme: es dürfen nur jene gehen, für die keine Ablösung gebraucht. Als der junge Seemann vom Wassertaxi abgeholt wird, stehen einige wehmütig an der Reeling und winken ihm nach.
Es wird Juli. Und mit jedem Tag sinkt die Hoffnung darauf, die Geburt des ersten Kindes mitzuerleben. Dann die erlösende Nachricht: Mach langen und intensiven Bemühungen des Flottenmanagements von Hapag-Lloyd in Hamburg kann am 14. Juli kann in Singapur ein Crewwechsel stattfinden. Nagies ist erleichtert, fängt an seine Sachen zu packen. Kurz darauf: Singapur zieht seine Genehmigung zurück. Die Fahrt geht weiter. Für Nagies und seine Familie tickt die Uhr – seine Frau ist hochschwanger und der Geburtstermin rückt immer näher.
Am 19. Juli hat Nagies seinen 31. Geburtstag – irgendwo im Indischen Ozean kurz hinter Sri Lanka. Ausgerechnet heute: Netzausfall – keine Internetverbindung zur Familie. Als abends die Störung behoben ist, trudeln gleich 20 WhatsApp Nachrichten auf einmal ein. Die Erste davon: „Wir fahren jetzt in die Klinik“, die Letzte: „Herzlichen Glückwunsch – du bist Papa. Hanna ist da – und kerngesund.“ Am Abend feiert die gesamte Crew in der Bar gleich zwei Geburtstage – den von Papa und den von Hanna.
In den darauffolgenden Tagen ändert das Schiff die Route. Das Mittelmeer ruft: Italien, Frankreich und Griechenland stehen auf dem Programm. Und in Piräus geschieht das Wunder: Nagies darf von Bord: am 31. Juli – nach genau 203 Tagen.
Als er einige Tage später nachts um eins endlich in Brunsbüttel ankommt, erwartet ihn die ganze Familie – und Hanna. Tränen fließen.
„Es ist verrückt, ich habe meine Frau gar nicht schwanger gesehen. Jetzt komme ich nachhause und ein Baby ist da. Es ist irgendwie verrückt“, sagt er.
Wie hat er die sieben Monate an Bord überstanden? „Wir hatten sehr einen Kontakt an Bord – und wir haben viel zusammen unternommen, Musik gemacht, Filme geschaut, gespielt. Es war wichtig die Zusammengehörigkeit zu spüren, damit man nicht ins Grübeln kommt. Einer meiner Kollegen an Bord musste mehrfach seine Hochzeit verschieben, ein anderer verlor seine Mutter und konnte nicht zur Beerdigung. Es war hart. Aber es ist unser Beruf – und wir lieben ihn.“
Und wann geht es wieder an Bord? „Wohl im Januar. Aber momentan habe ich gar nicht den Kopf frei, um schon wieder an die Arbeit zu denken“, sagt er. Und sein Blick fällt auf die Elbe – und er sieht doch ein wenig wehmütig dabei aus.