Mit fünf konnte er bereits knoten und spleißen, mit 15 fuhr er mit seinem Onkel zur See – beste Voraussetzungen für eine Karriere an Bord. Es folgten jedoch erst 15 Jahre im Büro bei Hapag-Lloyd, bevor Jan Rüsch Kapitän aus Überzeugung wurde
An dem einen oder anderen Sturm kam auch Jan Rüsch während seiner Seereisen nicht vorbei: „Ich fuhr 1990 während meines Informatikstudiums als Erster Offizier zur See. Eine prima Sache, wo sonst kann man in den Semesterferien so viel Geld verdienen?“, erzählt der Kapitän. „Mit der ,Figaros‘, einem 80 Meter langen Frachter, fuhren wir im Ballast von La Coruña aus Spanien Richtung Loire, als wir in schlechtes Wetter gerieten. Als die Wellen zu hoch wurden, drehten wir bei und nahmen die See zwei Strich von vorn, mussten aber zeitweilig voll voraus in den Wind drehen, um nicht querzuschlagen. Dabei bewegte sich unser Schiff wie ein Korken auf dem Wasser, weil es in Ballast war. Die Bewegungen waren so hart, dass die Funkantennen aus dem Mast flogen. Unter Deck sah es nicht besser aus: In meiner Kammer riss sich ein Tisch los, der mit zwei Rohren am Boden festgeschweißt war. Und als ich später in der Koje lag, krachte ich samt Matratze an die Decke. Aber an Schlaf war ohnehin nicht zu denken. Erst nach drei Tagen besserte sich das Wetter. Wir haben es überlebt, aber eigentlich hätten wir bei dieser Wetterlage niemals losfahren dürfen!“ Zwei Themen habe er seither tief verinnerlicht: „Gute Routenplanung und Teamwork sind überaus wichtig!“
Seiner Liebe zur Seefahrt konnte dieses Erlebnis nichts anhaben. „Ich komme aus dem Alten Land, da wird man entweder Schipper oder Bauer – und meine Eltern hatten keinen Bauernhof“, erklärt Jan Rüsch und berichtet von seinen frühesten Kindheitserinnerungen: „Da saß ich im Arm meines Opas an der Este, einem Nebenfluss der Elbe nahe der Pella Sietas Werft, und er erzählte mir Geschichten von seinen Schiffsreisen.“ Beide Großväter fuhren als Kapitäne zur See, Rüschs Vater war Bootsbaumeister und seine Mutter arbeitete einige Jahre als Köchin auf dem elterlichen Kümo (Küstenmotorschiff). „Knoten und spleißen konnte ich schon mit fünf, und mein erstes Boot bekam ich zum sechsten Geburtstag.“
Mit 15 absolvierte Rüsch ein Praktikum an Bord eines Kümos und sammelte erste Erfahrungen. „In den Ferien bin ich immer irgendwo mitgefahren. Das verkürzte später sogar meine Ausbildungszeit bei Hamburg Süd.“ Fünf Jahre fuhr Rüsch auf den Schiffen der Transeste Schiffahrt GmbH, dann erreichte ihn, wie so viele seiner Kollegen, die damalige Schifffahrtskrise. „Ich überlegte umzusatteln und entschied mich mit 28, Informatik zu studieren. Computer schienen mir mehr Zukunft zu haben.“ Nach dem Studium fragte er sich, wie er nun Informatik mit seiner Liebe zur Seefahrt unter einen Hut bekomme. „Da gab es nur eins: Hapag-Lloyd. Das Unternehmen galt als wegweisend. Das FIS-Projekt (Freight Information System) war der Anfang der Digitalisierung und Automatisierung aller Prozesse unseres Unternehmens. Daraus ist dann unsere hauseigene Software FIS entstanden“, erklärt Rüsch.
Der gebürtige Niedersachse arbeitete 15 Jahre als Projektleiter in der IT-Qualitätssicherung am Ballindamm. Auch Hochzeit und Familiengründung fielen in diese Zeit. Doch da war noch immer die Erinnerung an den eigentlichen Berufswunsch. Rüsch kaufte sich ein Segelboot, in der Hoffnung, seine Sehnsucht wenigstens in der Freizeit auszuleben. „Als ich dann eines Tages mit meiner Frau durch den Nord-Ostsee-Kanal tuckerte und mal wieder den Schiffen hinterhersah, fragte sie: ,Träumst du davon, wieder zur See fahren?‘. Meine Frau hatte längst bemerkt, was mit mir los war.“
Jan Rüsch,Gute Routenplanung und Teamwork sind überaus wichtig!
Mit dem Einverständnis seiner Familie kündigte der IT-Fachmann seine Stellung, um sich erneut bei Hapag-Lloyd zu bewerben: „Als Zweiter Offizier stieg ich wieder ein. Finanziell war das mit enormen Abstrichen verbunden, aber trotzdem die beste Entscheidung überhaupt!“ Sein erstes Schiff war die „Liverpool Express“: „Als ich meine erste Ladungswache antrat, dachte ich ,Ach, entspannt, es lädt nur ein Kran‘. Später entdeckte ich, dass zwei weitere Kräne arbeiteten. Ich hatte gedacht, sie gehörten zum Schiff vor uns. Mein letzter Frachter davor war gerade mal 135 Meter lang.“ Nur drei Jahre später wurde Jan Rüsch zum Kapitän ernannt. „Am liebsten fahre ich die Transatlantikroute. Der Nordatlantik bietet zwar allerhand Wettersorgen, ist aber immer wieder faszinierend.“ Hier spielte sich 2015 auch die Rettungsaktion ab, von der der Kapitän 2022 in der Fachzeitschrift „Yacht“ berichtete: „Ein Segler war auf der Route von Halifax nach Belgien rund 450 Meilen von Cape Cod entfernt in Seenot geraten. Es herrschte bereits tagelang Sturm mit bis zu acht Meter hohen Wellen und Regen. Als wir die Segelyacht entdeckten, war sie nur noch eine Meile von uns entfernt. Wir fuhren aber mit 18 Knoten, also viel zu schnell. 336 Meter Schiff mit 130.000 Tonnen Gewicht hält man nicht mal eben an. Ich konnte das Schiff nur bremsen, indem ich einen Kreis um die Yacht drehte und die Bremskraft unseres riesigen Ruderblatts nutzte. Wir fuhren dann auf 30 Meter an das Boot heran, und der Segler gab uns Handzeichen, dass er umsteigen wolle.“ Drei Freiwillige holten den Segler mit dem Rettungsboot an Bord. Ein riskantes Manöver, bei dem im Sturm auch noch der Funkkontakt abriss – doch am Ende gelang die Rettung und alle waren wohlbehalten an Bord.
Und was mag Kapitän Rüsch am meisten an der Seefahrt? „Ich liebe dieses Seemannsleben! Nicht nur das Meer, die Häfen und die täglichen Herausforderungen, auch das Miteinander an Bord, die vielen verschiedenen Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen und sozialen Schichten. Ob Tischtennisturniere, Weihnachtsfeiern oder die vielen persönlichen Gespräche – diese Art des Zusammenlebens gibt es nur an Bord“, findet Rüsch. Wertschätzung und Respekt sind für den 1,98-Meter-Mann dabei das A und O. Das habe er als langjähriger Kapitän des Hapag-Lloyd-Ausbildungsschiffs „Kuala Lumpur Express“ auch den Auszubildenden immer wieder zu erklären versucht: „Wenn sich jeder so verhält, wie er selbst behandelt werden möchte, kann eigentlich nichts schiefgehen. Das gilt übrigens auch für uns Kapitäne.