Seeleute sind oft über Monate unterwegs, haben wenig Kontakt zur Familie und die Zeit für einen Landgang ist knapp. Unterstützung jeder Art bieten die Seemannsmissionen – zum Beispiel in New York, Rotterdam, Hongkong und Hamburg
Für seine letzte Reise auf der „New York Express“ hatte sich der mittlerweile pensionierte Kapitän Uwe Fiedler ein besonderes Projekt vorgenommen: Das arg nüchterne bordeigene Gym sollte komplett modernisiert und ein Ort zum Wohlfühlen werden. Da das von See aus nicht zu organisieren war, wandte sich Fiedler an die New Yorker Seemannsmission. „Als ich davon hörte, war ich sofort dabei“, sagt Pastor Arnd Braun-Storck beim Seafarers International House. „Vom Fußboden über die Wandgestaltung bis hin zu Spiegeln gab es eine umfassende Einkaufsliste.“ Erst wurde der Transporter ausgeräumt, dann ging’s los zu einem Vollsortimenter. „Am Ende haben es sogar noch einige Pflanzen auf die ‚New York Express‘ geschafft“, sagt er zufrieden.
Ein ungewöhnlicher Auftrag, aber das ist es eben, was die Seemannsmissionen weltweit auszeichnet: Sie haben ein offenes Ohr für die Sorgen, Nöte und Wünsche der Seeleute und versuchen, individuell zu helfen. Das Seafarers International House (SIH) etwa gibt es schon seit 1873. Ursprünglich lutherisch ausgerichtet, spielen Konfessionen längst keine Rolle mehr. „Das Bedürfnis nach einem Menschen, mit dem man alles besprechen kann, ist da. Egal, welche Glaubensrichtung jemand teilt“, sagt Braun-Storck. „Oft geht es um Einsamkeit, um das Getrenntsein von der Familie. Wenn die Geburt eines Kindes verpasst wird, eine Scheidung aufgrund der langen Seereisen ein Thema ist, dann sind wir die neutrale Person von außen, die Trost und Hilfe spenden kann.“
ETWAS BESONDERES in New York ist die Vermittlung von Zimmern. „Dieses Angebot wird gern von Seeleuten am Anfang oder Ende ihres Berufslebens in Anspruch genommen. Wir begleiten dann auch mit Rat und Tat für den Übergang zwischen den Lebensabschnitten“, so Braun-Storck. Hoch im Kurs steht auch die Möglichkeit, über die Seemannsmission online Bestelltes geliefert zu bekommen. Gerade Letzteres ist in Rotterdam besonders wichtig. Severin Frenzel von der Deutschen Seemannsmission in Rotterdam: „Bei uns liegt der Hafenweit außerhalb der Stadt, sodass es für die Seeleute gerade bei den heutigen kurzen Liegezeiten schwer ist, das Schiff zu verlassen und Dinge selbst zu besorgen.“ Bis zu den Terminals von Dordrecht, Moerdijk und Ridderkerk reicht das zu betreuende Gebiet. „In erster Linie stehen wir aber für Gespräche zur Verfügung und nehmen uns Zeit für den persönlichen Kontakt. Uns ist wichtig, dass uns die Seeleute direkt erreichen können, sei es über Handy, SMS, Messenger-Apps oder E-Mail. Häufig sprechen wir im Vorfeld ab, was wir für die Crew tun können. Das können dann Dinge sein wie Mückenspray, eine Lesebrille, eine Winterjacke oder ein neuer Handy-Akku.“
SOZIALE KONTAKTE pflegen ist das A und O für die Rotterdamer. Regelmäßig organisieren sie Sightseeing-Touren und Strandspaziergänge. Reger Austausch und gute Zusammenarbeit mit den anderen Deutschen Seemannsmissionen gehören ebenfalls zum Tagesgeschäft. Frenzel: „Wir hatten mal den Fall eines Seemanns, der bei einer anderen Mission eine SIM-Karte gekauft hatte. Die funktionierte aber nicht, damit war der Mann völlig von seiner Familie abgeschnitten. Wir sind dann sofort rausgefahren, nur um festzustellen, dass das Schiff vor dem Ufer ankerte, sodass wir nicht an Bord konnten. Wir haben mehrere Tage gebraucht, um über eine lokale Firma und diverse Hotlines die Karte doch noch zu aktivieren. Der Seemann bedankte sich mit den Worten: ‚Dass ihr nicht aufgegeben habt, das werde ich nie vergessen. Danke!‘“ Seemannsmissionen dienen Seeleuten auch als Rückzugsort, wie Martina Platte von der Deutschen Seemannsmission in Hongkong weiß: „Mal andere Gesichter sehen, im Club abschalten können und seine Ruhe haben, bedeutet ihnen viel.“ Kürzere Liegezeiten im Hafen machen solche Aufenthalte noch wertvoller. Ob 6 Uhr morgens oder spätabends: Selbst für nur kurze Zeitspannen versucht die Seemannsmission, einen Aufenthalt im Club zu ermöglichen.
EINEM SEEMANN hat es dort so gutgefallen, dass er völlig die Zeit vergaß: „Er hatte sich für ein Telefonat in eine ruhige Ecke zurückgezogen und dann festgestellt, dass er die Closing Time verpasst hat. Mit Rufen und Klopfen weckte er mich mitten in der Nacht. Wir haben schnell Kontakt mit dem Schiff aufgenommen und am Ende ging noch alles gut“, erzählt Platte schmunzelnd. „Flexibel und spontan zu sein gehört bei uns einfach dazu.“ Und so kann die Deutsche, die seit 27 Jahren federführend die Seemannsmission dort betreibt, so schnell nichts mehr überraschen: handfesten Streit, schlafende Seeleute vor dem Haus, das hat sie alles schon erlebt.
EIN ORT ZUM ANLANDEN im wahrsten Sinne des Wortes ist der Hongkonger Club auch für Ein- und Aussteiger während ihrer häufig langen Wartezeiten. „Sie können hier ihren Jetlag ausschlafen, werden mit Essen versorgt und auf Anfrage gibt’s auch eine Dusche“, so Platte. Doch die Seemannsmission bietet noch mehr: Mit dem Boot „Dayspring“ des Mariner’s Club etwa werden vor Ort Ausflüge angeboten, Schiffe auf Reede besucht, und der fahrende Shop „shore to ship“ versorgt die Besatzungen mit gefragten Artikeln. Wie wichtig eine verlässliche Anlaufstelle wie die Seemannsmission auch während der Pandemie war, erzählt Jörn Hille, Seemannsdiakon der Deutschen Seemannsmission Hamburg-Harburg, die auch den Seemannsclub „Duckdalben“ betreibt. „Wir haben Tausende Quarantänebesuche in den Hotels absolviert, in denen die Leute festgesetzt waren. Dort wurden sie vom Gesundheitsamt zu zwei Wochen Quarantäne ,verknackt‘ und haben nichts davon verstanden. Wir rückten dann im Ganzkörperanzug an, versorgten sie mit Zigaretten und Seife und mussten mit dem Amt aushandeln, wohin sie zum Rauchen dürfen.“ Selbst ohne solche Zwischenfälle seien die Seeleute immensem Druck ausgesetzt: überlange Verträge, viele Überstunden, weit weg von der Familie, kein Landgang. All das drücke auf die Psyche und steigere die Konflikte in der Besatzung. Hier sieht Hille Hapag-Lloyd in einer Vorbildfunktion: „Ihr zahlt vernünftig, die Leute dürfen regelmäßig an Land. Eure Schiffe sind keine billigen Bauten, und über das Essen habe ich noch nie Klagen gehört.“ Er kennt andere Beispiele, wo die Heuer nicht bezahlt werde, der Kapitän die Mannschaft zusammenbrülle oder es Probleme mit dem Trinkwasser gebe. In solchen Fällen fungiert die Seemannsmission als unabhängige Beschwerdestelle, die sich einsetzt, sich um eine Lösung bemüht und psychologische Betreuung anbietet. Für das Seemannswohl jeder Art steht in Hamburg-Harburg ein Team von rund 120 Festangestellten, Auszubildenden und Ehrenamtlichen bereit. Besonders stolz ist Hille auf die bunte Mischung: „Vom ehemaligen Zöllner über Studenten, einer ehemaligen Ärztin bis zur Wasserschutzpolizistin ist alles dabei.“
SO LÄSST SICH FLEXIBEL agieren und alle können ihre Stärken ausspielen. „Und wir müssen so gut wie nie ,Nein‘ sagen“, so Hille. „Wir überlegen immer, wie wir es möglich machen können. Wir wollen, dass sich die Seeleute bei uns wohlfühlen und ihre Bedürfnisse äußern. Ihre Würde ist für uns das Wichtigste.“
SEEMANNSMISSIONEN WELTWEIT
Die ersten Anfänge der Seemannsmissionen sind im England des frühen 19. Jahrhunderts entstanden, mutmaßlich angestoßen vom anglikanischen Priester John Ashley. Mit der Industrialisierung wuchs die Schifffahrtsbranche – und mit ihr die Zahl Seemannsmissionen. Heute hat allein die katholische Einrichtung Stella Maris über 300 Stationen in 60 Ländern, die Mission to Seafarers ist in rund 200 Häfen tätig, und die evangelische Deutsche Seemannsmission betreibt derzeit 33 Stationen im In- und Ausland.